Anwendung der Öffnungsklausel bei der ab 2005 geltenden Altersrentenbesteuerung (BFH X R 58/08)
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b) Im Gesetzgebungsverfahren zum AltEinkG hatte der Bundesrat die Auffassung vertreten, durch die gesetzliche Regelung sei „ein Verbot der Zweifachbesteuerung bei bestimmten Personengruppen nicht sichergestellt“ (BTDrucks 15/2563, S. 8 – Anlage 2 Nr. 2). Im Wesentlichen von einer Zweifachbesteuerung betroffen seien Selbständige, die in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert seien, Selbständige, die freiwillig in die gesetzliche Pflichtversicherung eingetreten seien, sowie Selbständige, die Beiträge an berufsständische Versorgungswerke erbrächten. Der Sonderausgabenabzug für die geleisteten Beiträge sei zudem nur beschränkt möglich; der dieser Personengruppe zustehende Vorwegabzug habe sich in der Regel nur teilweise entlastend ausgewirkt. Von einzelnen berufsständischen Versorgungseinrichtungen sei bekannt, dass nach deren Satzung Pflichtbeiträge in Höhe der 2,5-fachen Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung erhoben würden. Dies habe zur Folge, dass in der Vergangenheit geleistete Beiträge in einem weitaus geringeren Umfang von der Einkommensteuer freigestellt gewesen seien, als dies in den Berechnungen für die Festlegung des vorgesehenen Besteuerungsanteils unterstellt worden sei. Ein Besteuerungsanteil von 50 % für Rentenleistungen an die genannten Personen- bzw. Berufsgruppen dürfe deutlich zu hoch sein.
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Aufgrund der Beschlussempfehlung des Finanzausschusses vom 28. April 2004 (BTDrucks 15/2986) wurde die sog. Öffnungsklausel in das AltEinkG aufgenommen. In der Begründung des Finanzausschusses vom 29. April 2004 wird die Frage, ob bei der Ermittlung der sich für die Öffnungsklausel qualifizierenden Beiträge das In-Prinzip anzuwenden sei, nicht beantwortet. Es wird lediglich ausgeführt, mit der Öffnungsklausel solle der Befürchtung einer doppelten Besteuerung auch in außergewöhnlichen Fällen begegnet werden. Eine unzutreffende Besteuerung könne nach Auffassung des Finanzausschusses in Ausnahmefällen dann auftreten, wenn der Zeitraum, in dem Beiträge oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze geleistet worden seien, mehr als zehn Jahre betrage (BTDrucks 15/3004, S. 20).
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c) Im Gegensatz zur Auffassung des FG gebietet der Sinn und Zweck der Öffnungsklausel nicht die Geltung des sog. In–Prinzips. Zwar kommt es nach dem in § 11 Abs. 2 Satz 1 EStG normierten Abflussprinzip für die Höhe des Sonderausgabenabzugs auf die in dem jeweiligen Veranlagungszeitraum erbrachten tatsächlichen Zahlungen an. Dies gilt auch für die Nachzahlung von Rentenbeiträgen für bereits abgelaufene Jahre (BFH-Urteil vom 12. November 1976 VI R 167/74, BFHE 120, 398, BStBl II 1977, 154; Senatsbeschluss vom 15. Oktober 2008 X B 60/07, BFH/NV 2009, 205). Insofern liegt es nicht fern, auch für die Berechnung des Höchstbeitrags auf das In-Prinzip abzustellen (so Myßen/Finckh, Neue Wirtschafts-Briefe, Fach 3, S. 14159, 14175; Jansen/Myßen/Risthaus, Renten, Raten, Dauernde Lasten, 13. Aufl., Teil D, Rz 1359; Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 28. Aufl., § 22 Rz 105; Lüsch in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 22 Rz 110; Niermann/Risthaus, DB 2008, Beilage 4, S. 34 f.; Ross in Dankmeyer/Lochte, Einkommensteuer, § 22 Rz 67; wohl auch Blümich/Stuhrmann, § 22 EStG Rz 100; differenzierend HHR/Risthaus, § 22 EStG Rz 314; P. Fischer in Kirchhof, a.a.O., § 22 Rz 27e; kritisch Berndt, Finanz-Rundschau 2007, 172, 176).
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Dieser Ansatz wird aber der Interessenlage der Betroffenen nicht gerecht. Für die Beantwortung der Frage, ob der Höchstbeitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung mehr als zehn Jahre überschritten worden ist, ist es nicht sachgerecht, lediglich auf das Jahr der Zahlung der Beiträge abzustellen. Es handelt sich hier nicht um das Problem, in welchem Jahr Altersvorsorgeaufwendungen abgezogen werden können, sondern um die Vermeidung einer möglichen verfassungswidrigen Doppelbesteuerung, die dadurch entsteht, dass ein Steuerpflichtiger eine Altersrente als Einnahme versteuern muss, obwohl er die von ihm getragenen Beiträge, aufgrund derer er die Rente erhält, gerade wegen ihrer Höhe nicht bzw. nur eingeschränkt als Sonderausgaben abziehen durfte. Sind rentenrechtlich Nachzahlungen für einzelne Jahre möglich, sind diese im Rahmen der Öffnungsklausel auch steuerlich zu berücksichtigen.
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Ein Sonderausgabenabzug war in den Fällen, in denen Beiträge –wie von der Klägerin– für frühere Jahre nachgezahlt wurden, nicht möglich; der Steuerpflichtige konnte in den Jahren, für die er die Nachzahlung erbrachte, die Beiträge wegen des Abflussprinzips (§ 11 Abs. 2 Satz 1 EStG) steuerlich nicht geltend machen. In dem Jahr, in dem er die (Nachzahlungs-)Beiträge zahlte, dürften sich diese wegen der bereits ausgeschöpften Höchstbeträge ebenfalls nicht mehr ausgewirkt haben, so dass die auf diesen nachgezahlten Beiträgen beruhenden Renten aus versteuertem Einkommen stammen.
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Diese Auslegung eröffnet nicht die Möglichkeit, missbräuchlich in den Geltungsbereich der Öffnungsklausel zu gelangen, da nur Zahlungen vor 2005 berücksichtigt werden können. Zudem ist zu bedenken, dass die damals erbrachten Leistungen, vor allem die Beiträge zur Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung, politisch gewünscht und gefördert wurden.
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4. Im Jahr 1959 hat die Klägerin mit dem nur bis zum September 1959 geleisteten Beitrag von 1.269 DM den Höchstbeitrag des Jahres 1959 von 1.344 DM nicht überschritten. Der jährliche Höchstbeitrag ist auch dann maßgebend, wenn nur für einen Teil des Jahres Beiträge geleistet wurden (so die Finanzverwaltung; vgl. Aktualisierung des BMF-Schreibens in BStBl I 2005, 429 durch BMF-Schreiben in BStBl I 2008, 390, Rz 141). Dass kein anteiliger Ansatz erfolgt, ergibt sich aus dem oben dargestellten Sinn und Zweck der Öffnungsklausel, den Fällen Rechnung zu tragen, in denen sich die Beiträge zu der Basisversorgung im Rahmen des Sonderausgabenabzugs nicht ausreichend auswirken konnten. Da es sich beim Sonderausgabenabzug um Jahresbeträge handelt, die nicht anteilig gewährt werden, ist es konsequent, bei der Anwendung der Öffnungsklausel auch auf die Jahresbeiträge abzustellen (so auch Niermann/Risthaus, DB 2008, Beilage 4, S. 34).
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5. Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen der Öffnungsklausel, so dass die Renten, die auf den Beiträgen der Klägerin oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze der Jahre 1949 bis 1958 beruhen, mit dem Ertragsanteil gemäß Â§ 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb Satz 4 EStG zu versteuern sind; darüber hinaus ist eine Anwendung der Ertragsanteilsbesteuerung nicht gerechtfertigt.
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Die Bescheinigung der Deutschen Rentenversicherung Bund beruhte auf der abweichenden Auffassung der Finanzverwaltung; sie muss noch entsprechend ergänzt werden. Da der erkennende Senat den vorgelegten Unterlagen nicht entnehmen kann, wie hoch der Anteil der Rente ist, der auf oberhalb der jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze geleisteten Beiträgen der Klägerin beruht, ist das Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.