Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung gekippt
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6. Vereinbarkeit mit Art. 12 GG
Demgegenüber sind die angegriffenen Vorschriften hinsichtlich Art. 12
Abs. 1 GG, soweit in diesem Verfahren hierüber zu entscheiden ist,
keinen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Die Auferlegung der
Speicherungspflicht wirkt gegenüber den betroffenen Diensteanbietern
typischerweise nicht übermäßig belastend. Unverhältnismäßig ist die
Speicherungspflicht insbesondere nicht in Bezug auf die finanziellen
Lasten, die den Unternehmen durch die Speicherungspflicht nach § 113a
TKG und die hieran knüpfenden Folgeverpflichtungen wie die
Gewährleistung von Datensicherheit erwachsen. Der Gesetzgeber ist
innerhalb seines insoweit weiten Gestaltungsspielraums nicht darauf
beschränkt, Private nur dann in Dienst zu nehmen, wenn ihre berufliche
Tätigkeit unmittelbar Gefahren auslösen kann oder sie hinsichtlich
dieser Gefahren unmittelbar ein Verschulden trifft. Vielmehr reicht
insoweit eine hinreichende Sach und Verantwortungsnähe zwischen der
beruflichen Tätigkeit und der auferlegten Verpflichtung. Gegen die den
Speicherungspflichtigen erwachsenden Kostenlasten bestehen danach keine
grundsätzlichen Bedenken. Der Gesetzgeber verlagert auf diese Weise die
mit der Speicherung verbundenen Kosten entsprechend der Privatisierung
des Telekommunikationssektors insgesamt in den Markt. So wie die
Telekommunikationsunternehmen die neuen Chancen der
Telekommunikationstechnik zur Gewinnerzielung nutzen können, müssen sie
auch die Kosten für die Einhegung der neuen Sicherheitsrisiken, die mit
der Telekommunikation verbunden sind, übernehmen und in ihren Preisen
verarbeiten.
7. Nichtigkeit der angegriffenen Vorschriften
Der Verstoß gegen das Grundrecht auf Schutz des
Telekommunikationsgeheimnisses nach Art. 10 Abs. 1 GG führt zur
Nichtigkeit der §§ 113a und 113b TKG sowie von § 100g Abs. 1 Satz 1
StPO, soweit danach Verkehrsdaten gemäß Â§ 113a TKG erhoben werden
dürfen. Die angegriffenen Normen sind daher unter Feststellung der
Grundrechtsverletzung für nichtig zu erklären (vgl. § 95 Abs. 1 Satz 1
und § 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG).
Die Entscheidung ist hinsichtlich der europarechtlichen Fragen, der
formellen Verfassungsmäßigkeit und der grundsätzlichen Vereinbarkeit der
vorsorglichen Telekommunikationsverkehrsdatenspeicherung mit der
Verfassung im Ergebnis einstimmig ergangen. Hinsichtlich der Beurteilung
der §§ 113a und 113b TKG als verfassungswidrig ist sie im Ergebnis mit
7:1 Stimmen und hinsichtlich weiterer materiellrechtlicher Fragen,
soweit aus den Sondervoten ersichtlich, mit 6:2 Stimmen ergangen.
Dass die Vorschriften gemäß Â§ 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG für nichtig und
nicht nur für unvereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären sind, hat der
Senat mit 4:4 Stimmen entschieden. Demzufolge können die Vorschriften
auch nicht in eingeschränktem Umfang übergangsweise weiter angewendet
werden, sondern verbleibt es bei der gesetzlichen Regelfolge der
Nichtigerklärung.
Sondervotum des Richters Schluckebier:
1. In der Speicherung der Verkehrsdaten für die Dauer von sechs Monaten
bei den Diensteanbietern liegt kein Eingriff in das Grundrecht aus Art.
10 Abs. 1 GG von solchem Gewicht, dass er als „besonders schwer“ und
damit gleichermaßen klassifiziert werden könnte wie ein unmittelbarer
Zugriff durch die öffentliche Gewalt auf Kommunikationsinhalte. Die
Verkehrsdaten verbleiben in der Sphäre der privaten Diensteanbieter, bei
denen sie aus betriebstechnischen Gründen anfallen und von denen der
einzelne Telekommunikationsteilnehmer aufgrund der vertraglichen Bindung
erwarten kann, dass diese sie in ihrer Sphäre strikt vertraulich
behandeln und schützen. Wird die nach dem Stand der Technik mögliche
Datensicherheit gewährleistet, so fehlt deshalb auch eine
objektivierbare Grundlage für die Annahme eines speicherungsbedingten
Einschüchterungseffekts beim Bürger. Die Speicherung erstreckt sich
nicht auf den Inhalt der Telekommunikation. Bei der Gewichtung des
Eingriffs muss deshalb eine wahrnehmbare Distanz zu solchen besonders
schweren Eingriffen gewahrt bleiben, wie sie bei der akustischen
Wohnraumüberwachung, der inhaltlichen Telekommunikationsüberwachung oder
der sogenannten Online-Durchsuchung informationstechnischer Systeme
durch unmittelbaren Zugriff staatlicher Organe vorliegen, und bei denen
in besonderem Maße das Risiko besteht, dass der absolut geschützte
Kernbereich privater Lebensgestaltung betroffen wird. Besonders
eingriffsintensiv ist danach nicht bereits die Speicherung der
Verkehrsdaten beim Diensteanbieter, sondern erst der Abruf und die
Nutzung der Verkehrsdaten durch staatliche Stellen im Einzelfall nach
den dafür bestehenden Rechtsgrundlagen; diese wie auch die richterliche
Anordnung der Verkehrsdatenerhebung unterliegen ihrerseits den strikten
Anforderungen der Verhältnismäßigkeit.
2. Die angegriffenen Regelungen sind im Grundsatz nicht unangemessen,
den Betroffenen zumutbar und damit verhältnismäßig im engeren Sinne. Der
Gesetzgeber hat sich mit der Pflicht zur Speicherung der
Telekommunikationsverkehrsdaten für die Dauer von sechs Monaten, einer
Verwendungszweckregelung und der strafprozessrechtlichen
Erhebungsregelung in dem ihm von Verfassungs wegen zukommenden
Gestaltungsrahmen gehalten. Die Schutzpflicht des Staates gegenüber
seinen Bürgern schließt die Aufgabe ein, geeignete Maßnahmen zu
ergreifen, um die Verletzung von Rechtsgütern zu verhindern oder sie
aufzuklären und die Verantwortung für Rechtsgutsverletzungen zuzuweisen.
In diesem Sinne zählt die Gewährleistung des Schutzes der Bürger und
ihrer Grundrechte sowie der Grundlagen des Gemeinwesens und die
Verhinderung wie die Aufklärung bedeutsamer Straftaten zugleich zu den
Voraussetzungen eines friedlichen Zusammenlebens und des unbeschwerten
Gebrauchs der Grundrechte durch den Bürger. Effektive Aufklärung von
Straftaten und wirksame Gefahrenabwehr sind daher nicht per se eine
Bedrohung für die Freiheit der Bürger.
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