Guido Westerwelle im Interview (Deutschlandfunk)
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Frage: Herr Westerwelle, die erste Reaktion, die aus Ihrer Partei kam nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil war: Steuern runter. Wäre angesichts eines solchen Urteils, einer solchen schallenden Ohrfeige, wie man ja auch als Kommentar immer wieder lesen und hören konnte – wäre da eine andere Reaktion nicht überfällig gewesen, weil es wieder denjenigen recht gibt, die sagen: Die FDP ist eben doch eine Ein-Themen-Partei, ist eben doch eine Klientelpartei?
WESTERWELLE: Nein, wir sind eine Partei, die vor allen Dingen die kleinen und mittleren Einkommen im Kopf hat. So kann es ja nicht weitergehen wie bisher, dass die ganze Republik über Hartz IV redet oder über ein paar steuerkriminelle Millionäre in der Schweiz, aber dass diejenigen vergessen werden, die den Karren in Deutschland ziehen. Das ist deshalb auch so wichtig, weil die Mitte und die Mittelschicht in Deutschland immer weiter schrumpft. Das ist sehr gefährlich, denn wenn die Mittelschicht wegbricht, dann verlieren wir die Brücke zwischen arm und reich. Und dann werden wir eine gesellschaftliche Spaltung haben, die es unbedingt zu verhindern gilt.
Frage: Herr Westerwelle, die Mittelschicht bricht unter anderem auch deshalb weg, weil die Löhne immer weiter sinken, weil immer mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse entstehen. Müssen wir die Diskussion über Mindestlöhne führen?
WESTERWELLE: Ich glaube, wir müssen vor allen Dingen die Diskussion führen über das, was wir für Wachstum zu tun haben. Deswegen machen wir ja eine Wirtschaftspolitik, die besonders stark auf den Mittelstand setzt. Aber ich will Ihnen in jedem Falle recht geben: Wir haben in Deutschland eine Lage, wo gerade von den kleineren Einkommen zu viel abgenommen wird. Das ist das Thema „Bürokratie“, das ist das Thema „Gebühren“ – man denke nur auch an Kindergärten oder Nachhilfe – alles was man auch für die eigenen Kinder schaffen möchte und oft genug auch in den derzeitigen Zuständen schaffen muss …
Frage: … höre ich da heraus: möglicherweise doch Sachleistungen für Kinder?
WESTERWELLE: Ich kann das nicht ausschließen, dass wir vor allen Dingen in der Bildung mehr dafür sorgen müssen, dass auch etwas, was wir für Kinder tun wollen, wirklich bei den Kindern ankommt. Das ist doch die zentrale Frage. Wir müssen mehr für Kinder tun. Aber ich möchte, dass es auch wirklich bei den Kindern ankommt. Und ich glaube, dass Bildung die zentrale Aufstiegschance ist, und ich glaube, dass die ganze Durchlässigkeit einer Gesellschaft auch von Bildung abhängt. Und ich finde es nicht in Ordnung, dass, wenn zum Beispiel ein Handwerker Ãœberstunden klopft und später zu seiner Familie nach Hause kommt, dass er davon fast nichts mehr behalten darf. Und ich finde es auch nicht in Ordnung, dass eine alleinerziehende Mutter sich den ganzen Tag an die Supermarktkasse setzt, hart arbeitet, und trotzdem nicht mehr hat, als wenn sie es ließe. Das muss doch endlich wieder verändert werden in diesem Land. Und wenn man das nicht mehr aussprechen darf, dann haben wir in Deutschl and sozialistische Denkverbote. Ich bleibe ausdrücklich bei dieser Bezeichnung.
Frage: Nun sind Sie in der Regierung, Sie können das beeinflussen, ob wir demnächst den Sozialismus einführen oder nicht. Nach gut 100 Tagen schwarz-gelber Koalition: Ist Regierungsarbeit da mitunter zum Schreien?
WESTERWELLE: Ich habe in den ersten 100 Tagen vor allen Dingen zwei Dinge verfolgt: Die Familien zu stärken und vor allen Dingen auch den Mittelstand zu unterstützen, denn 80 Prozent der Ausbildungsplätze, 70 Prozent der Arbeitsplätze werden ja im Mittelstand geschaffen und nicht bei diesen Großindustrien, denen wir pausenlos irgendwelche Steuermilliarden als Subventionen hinterherwerfen. Da brauchen wir eine wirkliche 180-Grad-Wende der deutschen Wirtschaftspolitik. Das ist nicht in 100 Tagen zu schaffen, aber man muss damit beginnen. Und wenn wir über Hartz IV reden, möchte ich einmal darauf aufmerksam machen: Das habe ich ja nicht in den letzten 100 Tagen gemacht, sondern das ist die Politik von SPD und Grünen, fortgesetzt von SPD und Union. Ich muss irgendwo auch mal darum bitten, dass man fair mit uns umgeht. Wir haben etwas mehr als 100 Tage Regierungsverantwortung und können nun wirklich nicht auf einmal alles ändern, was in elf Jahren falsch gelaufen ist. Das könnte n icht mal eine Mischung aus Einstein und Herkules.
Frage: Waren 100 Tage nicht ausreichend dafür, dass man sich in der Koalition so weit zusammenrauft, dass es ohne Brüllerei im Kabinett geht?
WESTERWELLE: Ich habe noch keine solche Stimmungs- und Geräuschlage in der Regierung selber mitbekommen …
Frage: … dann im Koalitionsausschuss? …
WESTERWELLE: … auch nicht. Da ich an jedem Koalitionsausschuss und an jeder Kabinettsitzung teilgenommen habe, kann ich Ihnen sagen, dass es sehr konstruktiv, gelegentlich auch natürlich mit Meinungsunterschieden, wie sollte es auch anders sein in einer Koalition, aber doch sehr konstruktiv zugeht. Und gerade das Verhältnis zwischen der CDU-Vorsitzenden und mir ist sehr solide und sehr vertrauensvoll.
Frage: Was läuft da gerade innerhalb der CDU beziehungsweise aus der Richtung des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten in der Debatte um Atomkraftwerkslaufzeiten? Verbirgt sich dahinter in Wirklichkeit der Versuch, mit den Grünen zu liebäugeln und die FDP möglicherweise abzuservieren?
WESTERWELLE: Sehen Sie, erst mal zur Sache. Die Kernenergie ist nichts anderes als eine Brückentechnologie. Aber wir wissen: Wenn wir heute, also jetzt, wie von Rot-Grün ja beschlossen, aus der Kernkraft in Deutschland aussteigen, also die sichersten Kernkraftwerke der Welt jetzt abschalten, dann werden wir am Tag danach den Strom aus sehr viel unsicheren Kernkraftwerken aus dem Ausland einkaufen. Das hat also weder etwas mit Ökonomie noch mit Ökologie zu tun. Und vor allen Dingen ist es unsozial, denn die Stromrechnungen werden in Deutschland explodieren, würden wir jetzt das tun, was Rot-Grün beschlossen hat, also jetzt in diesem Jahr mit dem Abschalten beginnen. Das wollen wir nicht. Dass dieses aus den Reihen der Union politisch in Frage gestellt wird, muss ich zur Kenntnis nehmen. Wir wollen einen anderen Weg gehen. Und ich nehme auch zur Kenntnis, dass manche Abgeordnete im nordrhein-westfälischen Landtag bei der CDU für Schwarz-Grün werben. Wir sind der Auffassung, das s damit die Verhältnisse sehr klar sind, auch in Nordrhein-Westfalen. Wer also eine Regierung der Mitte möchte, wer möchte, dass eine Regierung aus CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen erfolgreich weiter regiert, hat als verlässlichen Partner nur die FDP.
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